Viele Unternehmen profitieren von agil gestalteten Prozessen. Diejenigen, die nicht auf Agilität setzen, werden mitunter abgehängt. So scheint es zumindest. Schnell entsteht der Eindruck, agile Werkzeuge seien der passende Schlüssel für jedes Problem und für jede Unternehmensfunktion anwendbar. Aber wieso traditionelle und agile Prozesse strikt trennen? Es kann doch nicht alles schwarz und weiß sein, oder? Die Antwort ist einfach: oh ja doch. Manchmal ist schwarz und weiß genau richtig. Besser gesagt „rot“ und „blau“. Das sind die Farben, mit denen Dr. Gerhard Wohland Prozesse und ihnen zugrundeliegende Probleme beschreibt die damit gelöst werden. Und was für einen Künstler eine klare Empfehlung ist, gilt für Unternehmen erst recht: Manche Farben sollte man nicht mischen. Der deutsche Systemtheoretiker unterscheidet in blaue und rote Prozessanteile und beschreibt diese wie folgt:

Blaue Probleme sind kompliziert, rote Probleme komplex. Aber was beutet dies genau?

Blau und rot – zwei Welten und ihre Probleme

Die blaue Arbeitswelt – traditionelle Organisationsstrukturen – komplizierte Probleme
Stellen Sie sich die Reparatur eines Schweizer Uhrwerks vor. Äußerst kompliziert. Doch können wir sie durch angeeignetes Wissen verstehen, den Reparaturprozess in Teilschritte zerlegen und standardisieren. Die Fehlerursache ist vom “Fachexperten” erkennbar. Prozesse in der blauen Welt – sind vorhersehbar, sie wiederholen sich und sind somit planbar. Prozesse in der blauen Welt können durch feste Regeln präzise gesteuert werden. Daher könnten sie auch von Maschinen erledigt werden. Die blaue Welt betrifft laut Wohland „formale und starre” Strukturen.

Die rote Arbeitswelt – agile Organisationsstrukturen – komplexe Probleme
Was bei der defekten Uhr hervorragend funktioniert, klappt bei Problemen der roten Welt – z.B. die aktuell dynamisierte Wirtschaft – nicht mehr. Angeeignetes Wissen kann hier nur bedingt bis gar nicht mehr genutzt werden. Situationen in der roten Welt sind meist komplex, hochdynamisch, unvorhersehbar und überraschend. So, wie sie im Bereich von Service, Vertrieb und moderner Produktentwicklung auftreten können. Sie lassen sich nicht durch feste Regeln vorhersagen und steuern. Die rote Welt ist auf Menschen und dabei auf “Könner” angewiesen, die auf spontan auftretende Probleme reagieren und entscheiden können. Wohland beschreibt sie als „lebendige und dynamische” Strukturen.

Rote Welt gleich neu, blaue Welt gleich alt?

Man könnte meinen, die rote Welt sei eine Entwicklung der Moderne und früher war die Arbeitswelt “blau”. Das Gegenteil ist der Fall! Historisch gesehen ist die blaue Welt ein Kind der industriellen Revolution. Erst mit der Begründung der Arbeitsteilung in der industriellen Ära des frühen 20. Jahrhunderts durch die Thesen von Fredric W. Taylor, wurde unsere Arbeitswelt buchstäblich „organisiert“ und strukturiert. Vorher war die Arbeitswelt komplex und hoch individualisiert. Das war die Zeit der Manufakturen, mit “agiler Wertschöpfung” zwischen unterschiedlichen Gewerken. Hierarchisch-funktionale Organisationsformen, wie z. B. die Kirche und Militär waren die Ausnahme. Heute steigt mit der zunehmenden Vernetzungsdichte des Informationszeitalters der dynamische Teil der Wertschöpfung wieder enorm an. Globale, enge Märkte, Individualisierung und hoher Wettbewerb prägen die rote Arbeitswelt.

Die Bedeutung in der realen Welt

Was bedeutet all das in der realen Arbeitswelt? Wie können die blaue und rote Arbeitswelt sinnvoll zusammenarbeiten? Sollten agil organisierte (rote) und traditionell organisierte (blaue) Abteilungen strikt voneinander getrennt arbeiten? Nein, ganz und gar nicht. Die Verschränkung beider Bereiche ist möglich und hilfreich, mitunter sogar nötig.

Blaue Abteilungen können beispielsweise regelmässig in die Nahtstellen-Meetings roter Abteilungen eingebunden werden. Das fördert den Austausch und stellt eine Verbindung her. Die blaue Abteilung profitiert so von bereits etablierten agilen Werkzeugen, ohne dass es negative Auswirkungen auf die eigenen Prozesse gibt.

Farbenblind? Daran erkennen Sie agile Prozesse

Was sind nun die Faktoren für Agilität? Wie erkenne ich, dass ein Problem rot ist? Im Grunde ist es ganz simpel:

  1. Volatilität: Sich schnell verändernde Rahmenbedingungen, z. B. Markt- oder Gesetzesänderungen
  2. Unsicherheit: Geringe Informationsverfügbarkeit, z. B. im Hinblick auf Kundenwünsche
  3. Komplexität: Probleme lassen sich nicht in Einzelteile zerlegen, Unberechenbarkeit durch Interaktionseffekte
  4. Ambiguität: Sowohl positive als auch negative Implikation ein und derselben Sache

Sind einige oder alle dieser Faktoren erfüllt, braucht es mehr Dynamik und Orientierungswissen.

Fazit

Beim Lesen fällt bereits auf: Rot und blau schließen sich nicht gegenseitig aus. Es gibt keinen Krieg der Welten. Im Gegenteil: sie können koexistieren. Sie verhalten sich ein bisschen wie das Yin und Yang des Prozessmanagements – entgegengesetzte Kräfte, die sich nicht bekämpfen, sondern ergänzen – jedoch ohne sich zu vermischen.